Ignaz Böckenhoff - Heimatverein Raesfeld

Heimatverein Raesfeld e. V.
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IGNAZ BÖCKENHOFF - FOTOGRAF
Die Post
Ignaz Böckenhoff (1911-1994) verbrachte sein ganzes Leben in seinem Heimatdorf Raesfeld und dokumentierte über vier Jahrzehnte den Ort und seine Bewohner in allen Lebensbereichen; so entstand eine nicht nur Ortschronik in Bildern, sondern vor allem aber ein sehr persönliches, authentisches Porträt der Dorfgesellschaft über mehrere Generationen.
Bäckerei Gudel
Über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren hinweg hat Ignaz Böckenhoff als Amateurfotograf die Menschen und Zustände seines Heimatdorfes Raesfeld mit großer Hingabe porträtiert. Die für dieses Buch* ausgewählten Bildbeispiele dokumentieren die ländliche Lebenswelt und traditionelle Gesellschaftsordnung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Bilder einer vergangenen ländlichen Welt und ihrer Menschen bestechen durch die Dichte der Dokumentation, die Natürlichkeit und Ungezwungenheit. Historische Ereignisse mischen sich mit Stimmungen, sozialgeschichtliche Themen verbinden sich mit dem sicheren ästhetischen Gespür für den richtigen Augenblick! Eine engagierte Arbeitsgruppe des Heimatvereins hat mittlerweile einen Großteil der hinterlassenen 80.000 Fotos digitalisiert.
Auf dem Traktor
Ackerbau
Menschen vom Lande
dIgnaz Böckenhoff
Volker Jakob / Ruth Goebel
Aus westfälischen Bildsammlungen,
Band 3, Essen 2002
ISBN 978-3-89861-149-7
Blasmusik
Westfalenspiegel_2_2001_Boeckenhoff1.pdf
Westfalenspiegel_2_2001_Boeckenhoff2.pdf
Opa und Enkel beim Essen
Bausteine zur Interpretation von Fotografien im Geschichtsunterricht von Hendrik Lange

Fotografien sind faszinierende Quellen. Neben schriftlichen eignen sich vor allem visuelle Quellen, wie Fotografien, um den Konstruktionscharakter von Geschichte zu erkennen. Für den Geschichtsunterricht stellt der Landschaftverband Westfalen-Lippe verschiedene Motive und Unterrichtsbausteine zur Arbeit mit Bildquellen vor. Die Impulse und Aufgabenstellungen verstehen sich ausdrücklich als Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht, der die Möglichkeit zum korrelativen Lernen eröffnet.

Im Mittelpunkt stehen hier Bilder aus der Sammlung des Bauernsohnes und Dorffotografen Ignaz Böckenhoff (1911-1994; Kurzbiografie). Zeitlich gesehen geht es um die NS-Zeit und die Nachkriegszeit. Das 20. – "deutsche" – Jahrhundert ist ein Pflichtthema im Geschichtsunterricht. Böckenhoffs Werk kann man zum Großteil dem Spektrum der „Alltagsfotografie“ zuordnen. Seine Fotografien eröffnen einen neuen und ungewohnten Blick auf die NS-Zeit.

Alle vorgeschlagenen wie auch viele weiteren Bildmotive können bequem und legal aus dem Bildarchiv Online des LWL-Medienzentrums heruntergeladen und digital verwendet werden.
Ausbau der Marbecker Straße
Neben dem Besuch des Gymnasiums engagierte sich der junge Mann in zahlreichen Vereinen. Familienfotografien zeigen zu dieser Zeit einen nicht sehr hoch gewachsenen Jungen mit Brille im Kreis gleichgesinnter Kameraden. Die katholische Jugendbewegung hatte ihn und seine Freunde offenbar stark und nachhaltig beeinflusst. Wann dann genau das Interesse an der Fotografie erwachte, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Schon 1926 kaufte er in Borken seine erste Plattenkamera im Format 9 x 12. Später dann hat er sich erinnert, wie der Entwicklungsprozess der belichteten Aufnahmen damals vor sich ging: „ich hatte keine Dunkelkammer, aber eine dunkle Speckkammer. Dort wurden die Platten bei Petroleumlicht mit roten Zylindern entwickelt. Abzüge konnte man zur Not in der abgedunkelten Zimmerecke machen. Mit einem Kopierrahmen belichtete man das Fotopapier unter der Zimmerlampe und entwickelt wurde das Papier unter einem verdunkelten Gestell“. Heute, im Zeitalter digitaler Beliebigkeit, lohnt es sich immer wieder, an die experimentellen Anfänge der Amateurfotografie im ländlichen Westfalen zu erinnern.

Einige Jahre später, 1932, brach eine zweite Katastrophe über den jungen Böckenhoff herein. Nach zweimaligem Scheitern in der Oberstufe des Borkener Gymnasiums musste er die Schule ohne Abschluss verlassen. Der langgehegte Wunsch, katholischer Geistlicher zu werden, war damit für alle Zeit erledigt. Er kehrte enttäuscht und wohl auch verstört auf den elterlichen Hof zurück, machte sich dort, so gut er konnte, in der Landwirtschaft nützlich, intensivierte die Mitarbeit in den verschiedenen katholischen Vereinen und Verbänden, bei den Kolpingbrüdern und im BdKJ (Bund deutscher Katholischer Jugend) – und fotografierte alles, was ihm bildwürdig erschien: Ereignisse, Örtlichkeiten, Veranstaltungen und in ihnen: Immer wieder die Menschen, die er kannte, die Nachbarn, die Freunde, die den gleichen plattdeutschen Dialekt sprachen wie er selbst. Er war ja einer von ihnen.

Das blieb auch so nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein Jahr später, 1933, die ihn, den engagierten Katholiken, zunehmend selbst tangierte und in Schwierigkeiten brachte. Er wurde bespitzelt, verwarnt, und zog sich schließlich ganz aus der verbandspolitischen Arbeit zurück. An ihre Stelle trat mehr und mehr die Fotografie, sein eigentlichen Medium. 1937 kaufte er sich eine gebrauchte Rolleiflex 6 x 6 und ein Jahr später die berühmte Leica, die klassische schnelle Reportagekamera.

Erst jetzt konnte er eigentlich richtig auf die Suche gehen nach Motiven und Sujets. Davon gab es genug und er, der den Ort und seine Menschen wie kaum ein anderer kannte, fand sie überall in Raesfeld. Auf den Höfen der großen und kleinen Bauern, in den Werkstätten der Handwerker, den Läden der Gewerbetreibenden. Er fotografierte die die Alten ebenso wie die Jungen, die Erwachsenen und die Kinder, die einfachen Leute und die Sonderlinge und Außenseiter, die jede Dorfgemeinschaft damals kannte, mit der gleichen Zuwendung wie die Honoratioren: den Ortsgeistlichen, den Arzt und den Apotheker, den Dorfpolizisten und den Fabrikanten. Familienfeiern fanden im gleichen Maße sein Interesse wie die Dorf- und Schützenfeste und die kirchlichen oder die politischen Manifestationen.

1942 holte auch ihn der Krieg ein. Er wurde zur Luftwaffe eingezogen und kam später nach Sizilien und Griechenland, wo er die dortigen Feldzüge zeitweilig als Kriegsberichterstatter begleitete. Die Bilder, die er in diesen Jahren gemacht hat, sind wohl verloren. Bei Kriegsende wurde er zusammen mit vielen anderen Kameraden interniert und erst 1948 aus jugoslawischer Gefangenschaft entlassen. So kehrte er zurück nach Raesfeld, seinen Kosmos, wo er ohne festen Beruf und eigene Familie Aufnahme fand bei einer älteren Schwester. Inzwischen 37 Jahre alt, hätte er durchaus noch – wie andere – die Möglichkeit gehabt, einen Brotberuf zu ergreifen und sich in oder außerhalb seiner Heimatgemeinde eine neue Existenz aufzubauen. Aber das tat er nicht. Stattdessen betätigte er sich, immer mit dem Fahrrad unterwegs, im 1949 gegründeten Heimatverein als Kassierer. Er begnügte sich damit, die Bilddokumentation „seines“ Dorfes und „seiner“ Menschen fortzusetzen. Einer, der immer unterwegs und überall dabei war. Einer, der nicht auffiel. Und genau das ist es, was seine Stärke als Fotograf neben der sicheren technischen Kamerabeherrschung und dem nicht erlernbaren Instinkt für den richtigen Augenblick des Auslösens ausmacht: Das ist die Unsichtbarkeit.  Oder anders gesagt: Die Nähe, die Vertrautheit des Fotografen mit den Menschen, die er porträtiert. Denn die Kamera, wir wissen es alle, macht uns unsicher – denn sie schießt ja ein Bild. Sie nimmt uns etwas. Nur wenn es gelingt, diese Angst zu überwinden, entstehen Bilder, die Bestand haben.

Nun ein Szenenwechsel:
Der vertraute, seit Jahrhunderten scheinbar unbeweglich in sich ruhende Raesfelder Mikrokosmos, er begann sich zu verändern. Immer rascher. Der Bombenkrieg und schließlich der Einmarsch der Alliierten hatten bereits vieles zerstört und in Unordnung gebracht. Durch den Zusammenbruch 1945 war auch nach Raesfeld eine Vielzahl von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus dem Osten nach Raesfeld gespült worden, die die überkommene soziale und religiöse Homogenität der Bevölkerung aufweichten. Alte, seit undenkbaren Zeiten gepflegte Sitten und Gebräuche gerieten aus der Mode, die festen kirchlichen Rituale verloren an Verbindlichkeit in dem Maße, in dem das moderne Leben Einzug auch in Raesfeld hielt. Das Alte verging und Neues kam. Neue Straßen, neue Häuser, eine neue Automobilität, das Telefon, das Fernsehen. Die Menschen, die früher in ihrer Autarkie kaum je ihren Heimatort verlassen hatten und jetzt in alle Welt zu reisen begannen, wurden ihm fremd. Anders gesagt: Ignaz Böckenhoff wurde alt.

1950 hatte es in Raesfeld eine kleine Ausstellung mit seinen Bildern gegeben. 1989 ehrte die Gemeinde ihren Sohn mit einer Darstellung seines Lebenswerkes. Ein Fernsehbeitrag, der damals, 1989, entstand, zeigt einen verlorenen, orientierungslos gewordenen alten Mann, der fast hilflos mitten im Straßenverkehr ein Motiv sucht: „Ich weiß gar nicht mehr, was ich fotografieren soll!“ so lautete eine seiner letzten Bemerkungen.

Fünf Jahre später – in den letzten Lebensjahren war er auf den Rollstuhl angewiesen – ist er, wie bereits gesagt, 1994 in Raesfeld gestorben.

Meine Damen und Herren, alles das, was ich Ihnen hier erzählt habe, verdanke ich Adalbert Friedrich, dem Raesfelder Heimatforscher, der nun auch nicht mehr unter uns ist. Ein kluger, bescheidener Mann, von dem ich viel gelernt habe und der mich durch seine ruhige Freundlichkeit und Zuwendung beeindruckt hat. An ihn denke ich auch heute noch gerne zurück.

Es war mir wichtig, das so unauffällige Leben von Ignaz Böckenhoff heute hier in Ihrem Kreis noch einmal lebendig werden zu lassen, weil es eingebettet gesehen werden muss in den Raum, in dem er sein Werk geschaffen hat. Ja, ohne diesen Ort, Raesfeld, bleibt die Aura seiner Bilder, ihre Intimität und ihre Eigentümlichkeit, kaum erklärlich. Hier, und nur hier, findet sich der Focus, der das Wesen seiner Fotografie hintergründig erfahrbar macht.

Raesfeld also. Raesfeld mit seinem markanten Schloss und der ackerbürgerlichen Siedlung war damals – wie so viele andere Orte nicht nur in Westfalen – ein quasi autonomer Kosmos, eine Welt für sich. Gar nicht weit von Borken und Dorsten entfernt: Überschaubar, eng, manchmal einengend wohl auch, abgegrenzt auf sich fixiert, aber Wärme gebend. Jeder kannte jeden. Ein Milieu mit komplexen Verflechtungen, die nur der Dazugehörige versteht, fernab von anderen Welten. Eine ganz auf sich bezogene, im Glauben wie im öffentlichen Auftreten homogene Gemeinschaft, lange Zeit ohne Auto und Urlaubsanspruch, stolz darauf sich selbst zu versorgen, unabhängig also, aber doch auch ohne Freiheit und Selbstbestimmung. Zueinander verurteilt, könnte man sagen. Das kann schön sein, das kann manchmal auch schwer sein.

Für Ignaz Böckenhoff, der sich seinen Kinderglauben bis ins späte Alter bewahrt hatte, war es wohl schön, und dieser Emotion verdanken wir einige seiner besten Bilder. Eine junge Frau sagte mir einmal über seine Fotografien, sie hätten irgendwie „Seele“. Das ist eigentlich ein sehr passendes Wort für das, was auch ich empfinde, wenn ich nach einem Schlüssel suche für den Zauber, der ausgeht von manchen Bildern und der mich selbst nach lebenslanger beruflicher Beschäftigung mit dem Medium bis auf den heutigen Tag tief berührt.
So möchte ich Ihnen und mir am Schluss meiner Ausführungen eine grundsätzliche Frage stellen:

Ist Fotografie Kunst?
Diese Frage stellt sich seit der Geburt dieses merkwürdigen Mediums im Jahr 1839 immer wieder neu. Denn was macht die Fotografie? Sie erzeugt mittels eines technischen Verfahrens unter Zuhilfenahme von Licht und Chemie ein dauerhaftes Bild. Das war damals eine wahrhaft revolutionäre Erfindung, die einen uralten Traum Wirklichkeit werden ließ – den Traum vom eigenen Bild. Und so nimmt es nicht Wunder, dass diese Bilderzeugung schon um die Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts in deutliche Konkurrenz zur klassischen bildenden Kunst, zur Bildnismalerei, trat. Das, was bisher die Porträtisten mehr oder weniger „echt“ mit Pinsel und Farbe geschaffen hatten, konnte die Fotografie jetzt sehr viel schneller, beliebiger, billiger und, vor allem, genauer leisten. Aber die Frage bleibt: Handelt es sich bei der technischen Bildschöpfung um Kunst oder um Handwerk? Schon1845 urteilte der preußische Staat in dieser Frage unzweideutig mit der Entscheidung, dass die Fotografie „lediglich als eine mechanische Tätigkeit anzusehen sei“. So ist es übrigens bis heute geblieben. Immer noch unterscheidet man zwischen der gewerblichen Lehre der Fotografie und dem künstlerischen Studium des Fotodesigns. Der Frage ist also nicht beantwortet, sondern nur vertagt.

Hinsichtlich der Böckenhoff’schen Amateurbilder will ich dieses Urteil abschließend modifizieren. Ja, sage ich aus voller Überzeugung, Fotografie ist immer dann Kunst, wenn sie hinter der Oberfläche der Situation oder der Darstellung eine Geschichte erzählt – und unser Herz berührt. Und ja, in diesem Sinne ist Ignaz Böckenhoff ein Künstler, ein großer sogar.

Das ist es, was ich Ihnen hier heute sagen wollte.

Danke für Ihre geduldige Aufmerksamkeit.

Volker Jakob
Ignaz Böckenhoff: Fotograf und Heimatfreund
Ein Vortrag des Historikers Dr. Volker Jakob, ehemals Leiter des LWL-Medienzentrums beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Münster, den er bei Jubiläumsveranstaltung aus Anlass des 75-jährigen Bestehens unseres Heimatvereins am 7. September 2024 in Raesfeld gehalten hat.



Sehr geehrter Bürgermeister Tesing, liebe Herren Brune und Tünte, meine Damen und Herren vom Heimatverein Raesfeld, die Sie heute an diesem schönen Samstag im September hier zusammengekommen sind:

In diesem Jahr 2024 hat nicht nur die Bundesrepublik Deutschland ihren 75. Geburtstag gefeiert, wie Sie vielleicht gehört und gelesen haben, sondern auch der Heimatverein Raesfeld – und: ich selbst. Alle Baujahr 1949. Das politische Jubiläum lasse ich heute einmal außen vor. Aber über den Heimatverein Raesfeld und, vor allem, seinen ersten Kassierer, Ignaz Böckenhoff, möchte ich heute zu Ihnen sprechen. Und ein wenig, ganz am Rande, auch über mich selbst. Denn es gab eine lange, alte persönliche Beziehung zu diesem Heimatverein Raesfeld, die bis in den Beginn der 1990er zurückreicht. Damals habe ich den Vorsitzenden und „Vereinsmotor“ Adalbert Friedrich hier kennengelernt. Ich habe ihn, der 2020 hochbetagt im Alter von 96 Jahren verstorben ist, sehr gemocht und geschätzt. Er war über viele Jahre meine Verbindung nach Raesfeld. So viel vielleicht vorweg.

Nun ein Wort zu unserer gemeinsamen Beziehungsgeschichte:
Adalbert Friedrich hatte sich seinerzeit, so erinnere ich mich heute, an den Westfälischen Heimatbund gewandt mit der Bitte, einen Kontakt zur damaligen Landesbildstelle für Westfalen herzustellen. Das muss ungefähr 1991 gewesen sein, also vor mehr als 30 Jahren. Ich, gelernter Historiker, war damals Referatsleiter im Bild-, Film- und Tonarchiv der Landesbildstelle, die heute modisch Medienzentrum für Westfalen heißt. Ich bin also nach Raesfeld gefahren und habe mich mit ihm zusammengesetzt. Er hatte die Idee einer Diaserie, die die Geschichte Raesfelds 1939-1945 auf der bild/textlichen Grundlage der hier seit 1984 im „Museum am Schloss“ installierten Ausstellung, die heute noch erfolgreich präsentiert wird, weiter verbreiten sollte.

Diaserien, das muss hier für die jüngeren Anwesenden gesagt werden, waren im analogen, vordigitalen Zeitalter Bildungsmedien für den schulischen und außerschulischen Unterricht, z. B. in den Heimatvereinen oder den Volkshochschulen. Diese Medien umfassten in er Regel 12 kommentierte Bilder zu allen Bereich des westfälischen Lebens: Literatur, Geografie, Geschichte usw. Wir wollten mit diesem Rückgriff auf die gute, alte „Heimatkunde“ (hieß das damals) zeigen, dass Kultur nicht nur in den fernen Haupt- und Weltstädten stattfindet, sondern auch in der Provinz, in Westfalen. Das war die Idee hinter diesem Konzept.

So ist dann eine Serie entstanden, die in kommentierten Dokumenten und Fotografien beispielhaft für ganz Westfalen das Alltagsleben der Menschen in Raesfeld während der Jahre des Zweiten Weltkriegs dokumentiert. Um es kurz zu machen: Diese damals sehr erfolgreiche Bildfolge hat dazu beigetragen, Raesfeld als Ort und Böckenhoff als Fotograf in Westfalen und darüber hinaus bekannt zu machen. Denn auf dem Titel des beigegebenen Booklets stand ein Foto, das mir heute noch vor Augen steht: Ein paar Raesfelder Jungen spielten wohl 1940 den Krieg, den ihre Väter an den Fronten überall in Europa ausfochten, mit Holzgewehren nach. Ein Böckenhoff-Bild. Keine platte Dokumentation, sondern ein sublimes Gleichnis auf die Brutalität des Vernichtungskrieges, der damals gerade begann.

Natürlich hatte diese Diaserie 1992 dann auch in Raesfeld Premiere. Der Kontakt zum Heimatverein blieb danach bestehen. Zehn Jahre später rief mich Adalbert Friedrich erneut in Münster an und fragte, ob wir behilflich sein könnten bei der Erschließung des Böckenhoff-Nachlasses, den die Gemeinde Raesfeld nun, nach dem Tod des Fotografen 1994, geerbt hatte. Inzwischen hatte die digitale Revolution, wie wir alle wissen, Fortschritte gemacht, und der Landschaftsverband entwickelte in der Kulturpflege Datenbanken, um die visuellen Schätze des Landes zu sammeln, zu sichern, dauerhaft zu archivieren und allgemein sichtbar zu machen. Das war mein Auftrag, meine Aufgabe. Und so bin ich mit diesem Angebot erneut nach Raesfeld gefahren. Jetzt war auch Bürgermeister Rößing eingebunden. Gemeinsam haben wir ein Erschließungskonzept entwickelt, wobei der LWL die technische Hardware einbrachte und der Heimatverein Raesfeld die Software, das unverzichtbare lokale Wissen um Personen, Situationen und Ereignisse. Aber das war nicht alles. Wir haben gemeinsam die Idee einer katalogbegleiteten Ausstellung entwickelt, die diese Bilder den Menschen in Westfalen-Lippe wortwörtlich nahebringen sollte. Auf diese Weise kam eine Partnereinrichtung der LWL-Kulturpflege mit ins Spiel: Das Westfälische Museumsamt, das bereits bei der Einrichtung der Dauerausstellung „Raesfeld 1939-1945“ behilflich gewesen war. Das Ergebnis dieser Kooperation war eine Wanderausstellung, die durch ganz Westfalen-Lippe gereist ist. Raesfeld war damals ein Experiment, das Schule machte. Seither sind – aktueller Stand – 13 weitere Projekte realisiert worden, d. h. wir haben auf diese Weise private und kommunale Sammlungsbestände und die Überlieferungen fotografischer Landateliers wieder sichtbar gemacht und sie so vor dem Untergang gerettet. Ziel war es, Bausteine für eine noch zu schreibende Geschichte der westfälischen Fotografie zu liefern.

Das Buch, das wir dann 2002 im Essener Klartext-Verlag auf den Weg brachten, hieß: „Menschen vom Lande. Ignaz Böckenhoff“. Das Titelbild zeigt Großvater Brunsbach mit zwei Enkelsöhnen, Klompen an den Füßen, aufgenommen irgendwann 1948/49. Der alte Mann strahlt den Fotografen an, voller Vertrauen. Ein intimer Zauber geht von diesem Schnappschuss aus, der sich uns auch heute noch mitteilt.

Noch ein Zeitenwechsel:
Mehr als 20 Jahre später, im April dieses Jahres, 2024, erreichte mich per E-Mail die Premiereneinladung der Filmdokumentation „Unterm Hakenkreuz. Westfalen 1933 – 1945 im Amateurfilm“, die der LWL in zehn thematisch gegliederten Kapiteln als podcast herausgebracht hatte – Sie können sich ihn im Internet ansehen. Die Einladung warb mit einer 1942 entstandenen Böckenhoff-Fotografie, die den Raesfelder Bernhard Stenert im Kreis seiner Familie während eines Heimaturlaubs offenbar in der Küche des Wohnhauses zeigt. Ein gesetzter, Zigarre rauchender Familienvater in Uniform, nicht mehr ganz jung, die stolze Ehefrau und Mutter sowie 2 militärisch ausstaffierte Söhne und die kleine Tochter: Ein Bild, das uns einmal mehr die schleichende Militarisierung des Alltags am Beispiel einer ganz normalen Raesfelder Familie vor Augen führt. Kein platter Schnappschuss, sondern ein Stillleben, das auf der Netzhaut, im Gehirn, Assoziationen wachruft, das uns nachdenken lässt, das unsere Fantasie beschäftigt. Das ist es, was diese und andere Böckenhoff-Fotografien auszeichnet und zeitlos erscheinen lässt.

Ich habe das so ausführlich erzählt, um Ihnen, meine Damen und Herren, zu zeigen, wie mich Raesfeld und wie mich die Bilder Ignaz Böckenhoffs durch mein Berufsleben und darüber hinaus begleitet haben – und begleiten. Im Arbeitszimmer meiner holländischen Schwägerin Janneke in Groningen hängt „Mariechen“ an der Wand, ein Bauernmädchen, das fliegen möchte. Sie liebt das Bild, ich liebe es auch. Der Fotograf: Ignaz Böckenhoff. Er hat es wohl 1937 aufgenommen.

Heute nun findet ja hier in Raesfeld in einer Rückerinnerung eine erneute Begegnung mit Ignaz Böckenhoff statt. Damit möchte ich mich zugleich bedanken für die freundliche Einladung hierher, Herr Brune, Herr Tünte.

Also: Wer war dieser Mann? Wer war Ignaz Böckenhoff?
Über ihn, dessen Tod sich in diesem Jahr zum 30. Male jährt, möchte ich heute zu Ihnen sprechen, während eine Auswahl aus seinem rund 80.000 Aufnahmen zählenden Archiv im Hintergrund gezeigt wird, das er der Gemeinde Raesfeld testamentarisch vermacht hat. Heute bedauere ich es, dass ich diesen bemerkenswerten Mann nicht mehr persönlich kennengelernt habe.

Er war, um ihn einleitend kurz zu charakterisieren, ein Amateur, das heißt: er war ein Liebhaber im Wortsinne, ein Autodidakt, also einer, der sich die Grundlagen seiner kreativen Betätigung, in diesem Fall der Fotografie, selbst beigebracht hatte. Eine systematische Ausbildung als gelernter oder studierter Fotograf hat er nie erhalten. Ebenso wenig hielt er Kontakt zu Kollegen, mit denen er sich hätte austauschen können. Wir wissen nicht, ob und in welcher Weise er sich mit neuen Trends und ästhetischen Moden vertraut machte. Schulen und Berufsverbänden blieb er – soweit bekannt – fern.

Und darüber hinaus war dieser Ignaz Böckenhoff ein Außenseiter, unverheiratet, Junggeselle, geschäftlich eigentlich unbegabt und entsprechend wirtschaftlich erfolglos. Man tut ihm sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn auch ein wenig als Eigenbrötler und Sonderling charakterisiert. Jedenfalls war er einer, der selbst kein großes Aufheben von sich machte. Gerade weil er in seiner ganzen Bescheidenheit kaum ein Wort über sich und seine Motivationen verloren hat, möchte ich an dieser Stelle sein Leben noch einmal kurz skizzieren.
 
1911 wurde Ignaz Böckenhoff in Raesfeld geboren. Auf einem vergleichsweise großen Bauernhof, den die Familie seit Alters her bewirtschaftete. Hier wuchs er als sechstes von insgesamt sieben Kindern gottesfürchtig und fromm in  den Traditionen der katholischen Kirche auf. 1917, der Erste Weltkrieg ging in sein viertes Jahr, wurde er in der örtlichen „Volksschule“ eingeschult, so hieß das ja damals, wie die Älteren von Ihnen sicherlich noch wissen. Da der inzwischen 14-jährige gut lernte, absolvierte er 1925 erfolgreich die Aufnahmeprüfung für die Quarta der Borkener Rektoratsschule in der Kreisstadt. Früh hatte er, gläubig wie er war, den Wunsch geäußert, im späteren Leben einmal Priester werden zu wollen. Noch im selben Jahr 1925 wurde dieser neue Lebensabschnitt allerdings überschattet vom tragischen Tod des Vaters und zweier Brüder, die an Typhus erkrankten und innerhalb kurzer Zeit verstarben.
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